Humane Milch-Oligosaccharide: eine neue Ära in der Säuglingsernährung

Prof. Dr. Clemens Kunz, Institut für Ernährungswissenschaft, JLU Gießen, antwortet auf viele Fragen

Prof. Dr. Clemens Kunz, Institut für Ernährungswissenschaft, JLU Gießen, antwortet auf viele Fragen

HMO: Experten-Vortrag

Prof. Dr. troph. Clemens Kunz ist seit 1998 Professor für Ernährung des Menschen an der Justus-Liebig-Universität Gießen (Deutschland). Im Jahr 1984 begann er als Postdoc am Institut für Physiologische Chemie der Universität Bonn (Deutschland) bei Prof. Egge, einem der Pioniere auf dem Gebiet der Identifizierung und Charakterisierung von Humanmilch-Oligosacchariden.

Während seiner fünfunddreißigjährigen Erfahrung mit Humanmilch-Oligosacchariden konzentrierte er sich auf Analyse, Funktionen und Metabolismus von HMO bei Säuglingen.

Zusammen mit Dr. Sharon Donovan (USA) organisierte er 2011 in Kopenhagen das 1. Internationale Symposium über die Glykobiologie von Humanmilch-Oligosacchariden. Darüber hinaus liegt sein aktueller Schwerpunkt auf Vitamin D in Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei Kindern und Jugendlichen.

Einleitung
Mit den technologischen Fortschritten der letzten 5 Jahre und den damit verbundenen Möglichkeiten der Produktion von Human-Milch-Oligosacchariden (HMO) hat eine neue Ära in der Säuglingsernährung begonnen. Die bis vor kurzem nicht für möglich gehaltene Herstellung von HMO im großen Maßstab ermöglicht nun Studien zur Wirkung einzelner Komponenten, die primär nur in der Muttermilch vorkommen.
Heute kann erstmals untersucht werden, ob die Vorteile des Stillens, das für Wachstum und Entwicklung des Kindes besonders wichtig ist und zu einem niedrigeren Risiko von Krankheiten wie z.B. des Gastrointestinaltrakts oder von Allergien führt, vielleicht auf HMO zurückzuführen sind (Rudloff S, Kunz C 2015). Die bereits auf dem Markt angebotenen Säuglingsnahrungen, die präbiotische Oligosaccharide wie GOS, GOS/FOS u.a. enthalten, werden zwar häufig mit HMO in ihren Strukturen verglichen; dies jedoch ist aus wissenschaftlicher Sicht falsch (Kunz und Rudloff 2006; Bode 2012).

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass in Wissenschaft und Praxis viele Fragen allgemeiner Art zu HMO auftreten, die unbeantwortet bleiben oder zu Unsicherheiten in der Beurteilung führen. In der folgenden Übersicht sollen daher einige der praxisrelevanten Fragen beantwortet werden.

Was sind HMO?
HMO wurden bereits vor etwa 70 Jahren erstmals von Richard Kuhn und Kollegen in Heidelberg nachgewiesen.
Sie werden nach derzeitigem Stand ausschließlich in der Brustdrüse von stillenden Frauen gebildet. Lactose wird durch die Aktivität verschiedene Enzyme in der laktierenden Drüse mit Monosaccharid-Bausteinen verlängert und verzweigt, deren Komplexität zusätzlich durch weitere Modifizierungen mit Fucose und/oder einer spezifischen Sialinsäure modifiziert werden kann.

Die Gesamtmenge an HMO in reifer Frauenmilch liegt zwischen 5–15 g/L; damit gehören sie zusammen mit Lactose, Fett und Protein zu den Hauptkomponenten in der Muttermilch (Tabelle 1).

Die großen Schwankungen sind vor allem bedingt durch individuelle Unterschiede, Veränderungen während der Laktationszeit sowie durch eine genetische Prädisposition (abhängig vom Sekretor- bzw. Nicht-Sekretor-Status der Frau; in Europa gehören etwa 70–80 % der Bevölkerung zu „Sekretoren“, 20–30 % zu „Nicht-Sekretoren“).

Makronährstoffe in reifer Frauenmilch

 

Warum neuerdings das große Interesse an HMO?
Bis vor kurzem war es nicht möglich, größere Mengen an einzelnen HMO zu produzieren. Erst die nicht zu erwartenden rasanten Fortschritte, HMO über biotechnologische, chemische und/ oder enzymatische Verfahren herzustellen, führten dazu, dass einige HMO heute im Großmaßstab hergestellt werden können.

Warum sind in Säuglingsnahrungen diese Kohlenhydrate nicht natürlicherweise enthalten?
In Kuhmilch, auf denen Säuglingsnahrungen häufig basieren, kommen diese Komponenten entweder gar nicht nicht vor oder es sind nur wenige, wie einige saure Oligosaccharide, in sehr niedrigen Konzentrationen. Dies trifft auch auf die Milch anderer Tierspezies zu (einschließlich Menschenaffen).

Sind die produzierten HMO identisch mit den natürlicherweise in Muttermilch vorkommenden HMO?
Zwischen produzierten und den natürlicherweise in der Muttermilch vorkommenden HMO liegen keine strukturellen Unterschiede vor.

Was ist der Vorteil der Supplementierung mit einzelnen HMO?
Es ist heute zum ersten Mal möglich, identische HMO, so wie sie in der Muttermilch vorliegen, Lebensmitteln generell, also auch Säuglingsnahrungen, zuzusetzen. Damit ist es auch möglich, Struktur-Funktionsstudien durchzuführen, da nur solche eine klare Aussage erlauben, welche Funktionen von welchen Milchkomponenten tatsächlich beeinflusst werden. Quantitativ gesehen liegt zwischen Muttermilch und Säuglingsnahrungen auf Tiermilchbasis die größte Lücke bei den HMO (siehe oben).

Galacto- und Fructooligosaccharide sind keine HMO!
In wissenschaftlichen Publikationen, in der Laienpresse wie auch in Informationen für die Mütter wird die Supplementierung von Säuglingsmilchnahrung mit Galactooligosacchariden und Fructooligosacchariden (GOS/FOS) seit etwa 15 Jahren häufig mit dem Zusatz versehen, dass diese spezielle Mischung der Zusammensetzung von Kohlenhydraten in Muttermilch nachempfunden wurde. Diese Aussage ist, auch wenn es eine gute Marketingstrategie zu sein scheint, aus wissenschaftlicher Sicht falsch. Dies ist keine neue Erkenntnis, sondern wurde bereits vor längerem publiziert (Kunz und Rudloff 2008, Bode 2012).

HMO, GOS/FOS, GOS wie auch die meisten Ballaststoffe gehören zwar alle zur großen Gruppe der Kohlenhydrate, sie haben aber keine strukturellen Ähnlichkeiten. Beispielsweise würde man auch Vitamin D und Folsäure nicht miteinander vergleichen, nur weil sie beide zur Gruppe der Vitamine gehören.
Die einzelnen Bausteine von HMO und von GOS, GOS/FOS und anderen präbiotischen Oligosacchariden sind nicht identisch (Tabelle 2). Wichtige Bestandteile von HMO wie Fucose, Sialinsäure (N-Acetylneuraminsäure) oder Aminozucker (z.B. N-Acetyl-Glucosamin) fehlen in GOS/FOS völlig, während z. B. Fructose, Xylose oder Arabinose in HMO nicht vorkommen.

Monosaccharide in HMO und PBO (Beispiele)

Darüber hinaus, und für Funktionen besonders wichtig, sind die Verknüpfungen einzelner Bausteine untereinander völlig anders (Abbildung 1). Die strukturelle Vielfalt der HMO wird durch die Monosaccharide und deren spezifischen Verknüpfungen untereinander garantiert.

HMO versus GOS/FOS - Beispiele

 

Wie schwierig es ist, Unterschiede von Produkten, die bereits auf dem Markt sind und die in Verbindung mit HMO in Muttermilch gebracht werden, zu erkennen, zeigt folgendes Beispiel: Der Zusatz „Oligosaccharide aus der Milch“ ist zwar lebensmittelrechtlich erlaubt, aber diese Oligosacchride kommen weder in Kuhmilch noch in Frauenmilch vor (Tabelle 3). 

Säuglingsnahrungen angereichert mit Oligosacchariden - aber nicht identisch mit HMO

 

Die Erklärung ist, dass die Hersteller z. B. Lactose aus Kuhmilch isolieren, diese im Anschluss aufspalten in Glucose und Galactose, und dann wiederum die freigesetzte Galactose durch enzymatische Verknüpfung mit weiteren Galactose-Einheiten verlängern, sodass letzten Endes galactosylierte Oligosaccharide entstehen.

Diese aber haben keine Ähnlichkeit weder mit natürlicherweise in Frauenmilch noch in Kuhmilch vorkommenden Strukturen.

Welche Funktionen sind von HMO zu erwarten?
Die Vielfalt der Funktionen, die zur Zeit untersucht werden (Tabelle 4), ist auf die struktuellen Besonderheiten der über 150 Komponenten in Frauenmilch zurückzuführen.

Diskutierte Funktionien -

 

HMO werden als Präbiotika mit besonders spezifischen Wirkungen auf die intestinale mikrobielle Kolonisierung des Neugeborenen angesehen. Darüber hinaus gelten sie als antimikrobiell, antiadhesiv und sollen immunmodulierende Eigenschaften haben (Bode 2012, Davis et al. 2020, Kunz und Rudloff 2015).

Bisher in klinischen Studien untersucht ist die Supplementierung von Säuglingsformula mit 2´Fucosyl-Lactose (2´FL) alleine oder in Kombination mit Lacto-N-neoTetraose (LNnT) (Tabelle 5).

Diese beiden Komponenten wurden von der europäischen und der amerikanischen Zulassungsbehörde als sicher für die Anreichernung von Lebensmitteln eingestuft.

Als wichtigste Ergebnisse der bisher vorliegenden klinischen Studien zu 2´FL allein oder zu 2´FL+LNnT kann man zusammenfassen, dass sie sicher sind und zu einem Wachstum führen, der dem von gestillten Kindern entspricht.

Darüber hinaus gibt es auch deutliche Hinweise für Einflüsse auf die mikrobielle Besiedlung des Neugeborenen, die Infektabwehr oder die Beeinflussung von Allergien (Goehring et al 2017, Pucchio et al. 2018, Berger et al. 2020). Die bisherigen Ergebnisse hierzu müssen jedoch noch weiter untersucht und bestätigt werden.

Welche Überlegungen spielen bei der Frage: „Welche HMO sollte man Säuglingsnahrungen zusetzen“  die entscheidende Rolle?

Überlegungen, alle HMO (>150), die natürlicherweise in der Muttermilch vorkommen, auch Säuglingsnahrungen oder anderen Produkten zuzusetzen, mag aus der Sicht der Industrie zwar nachvollziehbar sein, wäre jedoch nur dann sinnvoll, wenn man den physiologischen Zusatznutzen für jedes einzelnes HMO nachgewiesen hätte.

Nur der alleinige Nachweis, dass eine Komponente in Frauenmilch gefunden wurde, rechtfertigt nicht deren Supplementierung, wie die ESPGHAN in anderem Zusammenhang in einem Positionspapier schon vor längerem hervorgehoben hat.

Nur bei einer zu erwartenden physiologischen Wirkung, begründet durch Daten aus Grundlagenforschung und präklinischen Untersuchungen, sollten Studien beim Menschen überlegt werden. Nach Ansicht des Autors kommen dafür zur Zeit nur wenige HMO in die engere Auswahl; diese gehören zufälligerweise auch zu den quantitativ wichtigsten HMO (Tabelle 5).

Einzelne HMO, die supplementiert werden

 

Nicht supplementiert werden sollten solche Komponenten, die gelegentlich in Frauenmilch vorkommen, deren möglichen Funktionen aber selbst in vitro bisher nicht untersucht sind (Tabelle 6). Beispiele hierfür wären sogenannte galactosylierte Oligosaccharide wie 3´Galactosyl-Lactose (Gal-Lac), 4´-Gal-Lac oder 6´Gal-Lac.

Überlegungen zur HMO-Supplementierung von Säuglingsnahrung

Zusammenfassung

HMO, die praktisch nur in Frauenmilch und dazu noch in großen Mengen vorkommen, sind aufgrund ihrer speziellen Strukturen geradezu geeignet, sehr unterschiedliche und spezifische Funktionen zu haben. Fälschlicherweise werden diese Strukturen häufig z.B. mit GOS und FOS in Säuglingsnahrungen verglichen, was wissenschaftlich gesehen jedoch nicht haltbar ist.

Da erst vor kurzem der Durchbruch bei der Herstellung einiger Komponenten gelungen ist, können nun auch Funktionen von HMO beim Säugling untersucht werden. Somit sind jetzt zum ersten Mal Struktur-Funktionsuntersuchungen von individuellen HMO möglich, die eine klare Aussage zu Wirkungen ermöglichen sollten.

Wir sind somit am Beginn einer neuen Ära in der Säuglingsernährung, die es möglich macht, viele bisher unbeantwortete Fragen zu untersuchen. HMO sind sicher nicht der „magic bullet“, wie man aufgrund mancher Publikationen denken könnte, aber das Potenzial für eine Vielzahl an Wirkungen ist sehr groß.

Referenzen

Berger B, Porta N, Foata F, Grathwohl D, Delley M, Moine D, Charpagne A, Siegwald L, Descombes P, Alliet P, Puccio G, Steenhout P, Mercenier A, Sprenger N. Linking Human Milk Oligosaccharides, Infant Fecal Community Types, and Later Risk To Require Antibiotics. mBio 17;11 (2020) doi: 10.1128/mBio.03196–19

Bode L (2012). Human milk oligosaccharides. Every baby needs a sugar mama. Glycobiology 22: 1147–1162 (2012)

Davis EC, Dinsmoor AM, Wang M, Donovan SM. Microbiome Composition in Pediatric Populations from Birth to Adolescence: Impact of Diet and Prebiotic and Probiotic Interventions. Dig Dis Sci 65: 706–722 (2020)

Goehring KC, Marriage BJ, Oliver JS, Wilder JA, Barrett EG, Buck RH (2016). Similar to Those Who Are Breastfed, Infants Fed a Formula Containing 2‘-Fucosyllactose Have Lower Inflammatory Cytokines in a Randomized Controlled Trial. J Nutrition 146: 2559–2566 (2016)

Kunz C, Rudloff S. Health promoting aspects of milk oligosaccharides. Int Dairy J 16: 1341–1346 (2006)

Puccio G, Alliet P, Cajozzo C, et al. Effects of infant formula with human milk oligosaccharides on growth and morbidity: a randomized multicenter trial. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 64: 624–631 (2017)

Rudloff S, Kunz C. Oligosaccharide in Frauenmilch – Potential für künftige Säuglingsmilchnahrungen. Monatsschrft Kinderheilk 163:790–795; (2015)

Auf einen Blick

  • Spezielle Humane Milch-Oligosaccharide kommen nur in Muttermilch vor, sie gelten als besonders gesundheitsfördernd für den Säugling.
  • Die Gesamtmenge an HMO in reifer Frauenmilch liegt zwischen 5–15 g/L; sie gehören zu den Hauptkomponenten der Muttermilch.
  • Die Herstellung von HMO im großen Maßstab ermöglicht jetzt Studien zur Wirkung einzelner Komponenten, die spezifisch für Muttermilch sind.
  • Zwischen produzierten und den HMO in der Muttermilch bestehen keine strukturellen Unterschiede.
  • Es ist erstmals möglich, identische HMO wie in der Muttermilch auch Säuglingsnahrungen zuzusetzen.
  • HMO und GOS, GOS/FOS sowie andere präbiotische Oligosaccharide sind nicht identisch; vergleichbare Wirkungen von GOS oder GOS/FOS sind spekulativ, da keine Studie dazu vorliegt.