Beim Protein vollzieht sich ein Verständniswandel

Martin Wabitsch

Interview mit Prof. Dr. Martin Wabitsch, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Ulm.

Herr Prof. Wabitsch, die Bedeutung der Proteine, speziell in der frühen Kindheit, scheint augenblicklich in der Forschung viel behandelt zu werden. Gibt es neue Erkenntnisse?

In den letzten Jahrzehnten vollzieht sich bei der Betrachtung und Einschätzung der Proteine für die kindliche Entwicklung ein tiefgreifender Verständniswandel.

Lange standen vor allem unzureichende Proteinzufuhr und Mangelernährung im Vordergrund. Eine unzureichende Versorgung mit Eiweiß, gerade in der sensiblen Phase der frühen Kindheit führt nachweislich zu langfristigen gesundheitlichen Einschränkungen. Für weite Teile der Welt ist die zu geringe Proteinaufnahme weiterhin eine große Aufgabe, die teilweise ungewöhnliche Lösungsansätze erfordert. Für extrem unterernährte Kinder gilt nach wie vor eine sehr eiweißreiche Nahrung als unerlässlich, Kuhmilch bzw. Milchpulver ist dabei die erste Wahl.

Die Gefahr einer Mangelernährung gilt übrigens auch in hochentwickelten Ländern bei Frühgeborenen und bei chronisch kranken Kindern.

Zuviel Protein schadet offenbar aber auch?

Um Mangelerscheinungen auch bei nichtgestillten Kindern zu verhindern, fordern die internationalen Fachgesellschaften und die WHO einen höheren Eiweißgehalt bei Säuglingsnahrungen. Erst Ende der 1990er-Jahre wurde erkannt und nachgewiesen, dass damit – angesichts einer allgemeinen Protein-Überernährung – das Risiko eines späteren Übergewichts verbunden ist.

So zeigte die bekannte Untersuchung bayerischer Schulanfänger durch von Kries et al. (1999), dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Stilldauer im Säuglingsalter und einem Übergewichtsrisiko mit 6 Jahren besteht. Die daraus formulierte „Early-Protein-Hypothesis“ wird ganz aktuell mit den Langzeit-Ergebnissen der CHOP-Studie bestätigt. So kann in Säuglingsnahrung durch eine hohe Proteinqualität der gesetzlich vorgeschriebene Mindestgehalt aller lebenswichtigen, essentiellen Aminosäuren erreicht werden. Die optimierte Proteinqualität in Kombination mit dem bedarfsgerecht reduziertem Proteingehalt führen in Säuglingsnahrung zu einer metabolischen Programmierung einer altersgerecht erwünschten Gewichtsentwicklung.

Die Fortschritte der biochemischen Forschung haben außerdem weitere Wirkungen offenbart?

Immer klarer wird, wie vielfältig die Eiweiße alle Bereiche des menschlichen Organismus bestimmen. Und wie wichtig dafür das jeweilige Aminosäureprofil ist. Nicht nur die Mengen der aufgenommenen Proteine spielen eine Rolle für Entwicklung und Wohlbefinden, ebenso entscheidend ist die Qualität und die Zusammensetzung. Das haben inzwischen zahlreiche Untersuchungen bestätigt. 

Gerade der Zeitraum der ersten 1.000 Tage scheint dabei nachhaltigen Einfluss auf die spätere Entwicklung zu haben?

Viele Studien zeigen inzwischen, dass durch die Ernährung in diesem sensiblen Zeitraum die Weichen für eine langfristige organische Gesundheit gestellt werden. Das betrifft nicht nur das Risiko zu späterem Übergewicht und Adipositas, sondern auch damit assoziierte kardiovaskuläre Erkrankungen und vor allem Typ 2 Diabetes.

Offenbar wird aber auch das Risiko einer allergischen Erkrankung schon sehr früh durch die Ernährung beeinflusst. Auch hier kommen der Proteinqualität und der Zusammensetzung der Aminosäuren besondere Bedeutung zu.

Wie ist das zu erklären?

Muttermilch enthält Eiweißstrukturen, die vom Organismus des Säuglings in der Regel sehr gut vertragen werden, da sie genau auf den jeweiligen Bedarf der Entwicklungsstufe zugeschnitten sind. Stillen ist also auch in dieser Beziehung der „Goldstandard“ der Ernährung. Bei herkömmlicher Säuglingsnahrung auf Kuhmilch-Basis ist dies nicht möglich, da das Aminosäureprofil von Kuhmilch ganz anders gestaltet ist. Das kann zu allergischen Reaktionen führen, besonders wenn bereits eine erbliche Belastung besteht.

Deshalb werden sogenannte hydolysierte Säuglingsnahrungen empfohlen, wenn nicht gestillt werden kann?

Genau. Bei HA-Nahrungen werden die Eiweißketten enzymatisch und durch Erhitzen aufgespalten, so dass sie besser vertragen werden. Allerdings hat sich erwiesen, dass nicht jede Form der Hydrolysierung wirksam ist. Empfohlen werden deshalb ausschließlich Hydrolysate, deren Wirksamkeit in klinischen Studien nachgewiesen wurde.

Diskutiert wird zurzeit, ob HA-Nahrungen zur Prävention auch bei Kindern gegeben werden sollen, bei denen ein erhöhtes Allergie-Risiko nicht bekannt ist.

Noch einmal zur möglichen Programmierung in den 1.000 Tagen. Jüngste Studienergebnisse lassen vermuten, dass diese tatsächlich schon im Mutterleib beginnt?

Schon länger ist bekannt, dass Säuglinge, die – aufgrund einer Mangelernährung in utero – zu klein oder mit zu geringem Gewicht geboren werden, später ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas haben, neben anderen Einschränkungen. Ein solches Risiko besteht aber ebenfalls bei übergewichtigen Schwangeren, deren Kinder häufig bereits ein erhöhtes Geburtsgewicht haben. Sie scheinen das Ungeborene mit einem Überschuss an Proteinen zu versorgen. Ein Problem, das sich zunehmend in den Industrie- und Schwellenländern zeigt.

Aktuell wird aber diskutiert, ob in diesen Fällen die spätere starke Gewichtszunahme verringert werden kann, wenn eine Säuglingsnahrung mit einem reduzierten Proteinanteil gegeben wird, sofern nicht gestillt werden kann. Erste Studien lassen einen solchen Zusammenhang vermuten.

Das Thema Proteine und frühkindliche Ernährung bleibt also spannend?

Auf jeden Fall! Zunehmend bestätigen klinische Studien die neu formulierten Hypothesen und ermöglichen neue Forschungsansätze. Oder wie es Engelbert Buxbach in seinem Grundlagenwerk „Fundamentals of Protein Structure and Function” aus dem Jahr 2007 so schön formuliert hat: “Nature is greatest in the smallest things”.