Expertenmeinungen

Dr. Stephan Buderus

Chefarzt der Abteilung Pädiatrie am Marien Hospital, Bonn.

Facharzt für Pädiatrie und zertifizierter Gastroenterologe für Kinder und Jugendliche (GPGE).

Herr Dr. Buderus, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen nehmen vor allem in den Industrieländern zu. Dabei werden die Betroffenen immer jünger. Was sind die Erklärungen für die Entwicklung?

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) gehören zu den sogenannten „Zivilisationserkrankungen“. Auch wenn bisher nicht bekannt ist, welche Faktoren es genau sind, geht man somit davon aus, dass bestimmte Umweltfaktoren, die zu unserer aktuellen Lebensweise dazugehören, dazu beitragen, die komplexe und insgesamt multifaktorielle inflammatorische Kaskade auszulösen, die zur Manifestation der CED führt. Verschiedene epidemiologische Studien haben eine Zunahme der Inzidenz besonders bei jüngeren pädiatrischen Patienten mit M. Crohn gezeigt. Bisher kann aber auch dafür keine „eindeutige“ Erklärung gegeben werden. Hypothesen, die diskutiert werden, reichen von der bekannten Hygienehypothese und deren „Variante“ der „Kühlschrankhypothese“ (durch die generelle Verwendung von Kühlschränken vermehrte intestinale Exposition gegenüber pathogenen Keimen, die die Kühlschrankumgebung besser tolerieren und im Darm den pathologischen Prozess triggern), über die Verwendung von Antibiotika, und der generellen Zusammensetzung der Ernährung. Diese Aufzählung ist sicherlich nicht komplett, sondern kann nur einen Überblick geben.

Genetik oder Umwelt – noch immer sind die wesentlichen Ursachen für CED nicht geklärt?

Das stimmt. Mittlerweile sind über 160 Gene mit Bezug zur CED-Pathogenese charakterisiert, ohne dass dies zur Klärung „der einen Ursache“ geführt hätte. Stattdessen unterstreicht die Vielfalt dieser Befunde, dass ein komplexer Zusammenhang zwischen genetischer Prädisposition, verschiedenen Funktionen des Immunsystems und von Umweltfaktoren besteht. Im Darmlumen selbst sind ganz wesentlich auch die intestinale Mikrobiota und die sogenannte Mukosabarriere von Bedeutung.

Die Zusammensetzung der Darmflora scheint aber eine große Rolle zu spielen?

Ja, in der Tat. Mittlerweile liegen Studienergebnisse vor, die zeigen, dass sich die Darmflora von CED-Patienten von denen Gesunder unterscheidet und dass CED-Patienten im Schub eine andere Zusammensetzung ihrer Mikrobiota haben können als in Remission. Außerdem – und hier betone ich wieder das „Netzwerk“ der pathophysiologischen Faktoren - stehen verschiedene der CED-assoziierten Mutationen mit der Erkennung und Abwehr von Bakterien in Zusammenhang.

Die gängige Therapie mit Glukokortikoiden empfiehlt sich bei Kindern im Wachstum nicht, enterale Ernährung (EEE) wird zur Therapie favorisiert?

Das ist richtig für den M. Crohn. Gemäß den aktuellen Leitlinien der ECCO und ESPGHAN zur Behandlung des M. Crohn bei Kindern und Jugendlichen (Rümmele et al., 2014) ist die exklusive enterale Ernährungstherapie die Therapie der ersten Wahl zur remissionsinduzierenden Therapie des luminalen M. Crohn. Die Effektivität (Ansprechrate ca. 80%) ist zumindest vergleichbar der des Kortisons, ohne dass dessen Nebenwirkungen auftreten. Außerdem wird gleichzeitig und zusätzlich eine häufig bestehende Malnutrition (sei es ein Gewichtsverlust bzw. ein Untergewicht, oder ein Eisen-, Spurenelement- oder Vitaminmangel) mittherapiert. Typischerweise fühlen sich die Patienten innerhalb weniger Tage deutlich besser, die Inflammationsmarker sind rückläufig und es kommt zu einer Gewichtszunahme. Sofern zuvor ein Wachstumsstillstand bestand, beginnt häufig auch bald ein Aufholwachstum.

Eine Fortführung der enteralen Ernährung nach Abschluss der EEE wird diskutiert?

Das Konzept der partiellen oder supplementären Ernährungstherapie nach Beendigung der 6-8- wöchigen Phase der exklusiven Ernährungstherapie hat das Ziel, den Remissionserhalt zu sichern. Dazu sollen die Patienten auch nach der „Schubtherapie“ weiterhin möglichst täglich z.B. 25% des täglichen Kalorienbedarfs in Form einer Trinknahrung zusätzlich zur sonstigen Ernährung und zur medikamentösen Therapie zu sich zu nehmen. Andere Varianten, die aus meiner Sicht aber nicht so praktikabel sind, stellen die nächtliche Sondierung von Therapie-Nahrung, oder die zyklische Form exklusiver enteraler Ernährungstherapie (z.B. alle 4-8 Wochen 2 Wochen exklusive Ernährungstherapie) dar. In der oben bereits erwähnten ECCO-/ESPGHAN-Leitlinie wir die partielle Ernährungstherapie spezifisch als erwägenswerte Option angegeben. Aufgrund bisher „geringer Evidenz“ wird aber keine graduierte Empfehlung ausgesprochen.

Gibt es neue, ganzheitliche Therapieansätze? Vielleicht sogar Aussichten auf eine mögliche Heilung?

Als „Schulmediziner“ betrachte ich die Therapieverfahren, die ich zur Anwendung bringe, immer auch als ganzheitlich. Schließlich berücksichtigen wir einerseits die spezifischen Charakteristika der jeweiligen Erkrankung (Diagnose, Schwere, Ausdehnung, Dauer der Erkrankung etc.) aber ebenso viele andere individuelle und persönliche Aspekte, Wünsche, Bedürfnisse, Vorstellungen und Einstellungen der Patienten und auch ihrer Familien. Es soll das Kind bzw. der/die Jugendliche insgesamt gesunden, gute Lebensqualität ist ein ganz wesentliches Therapieziel. Leider gibt es bisher keine medikamentöse Therapie, die zu einer echten Heilung im Sinne von „der Darm ist wieder ganz und gar gesund und dazu brauchst Du keine Medizin mehr“ führt. Da aber momentan sowohl in Hinblick auf das Verständnis der Pathogenese der Erkrankungsgruppe als auch therapeutische Fortschritte erzielt werden, habe ich gute Hoffnung, dass wir dem Ziel einer Heilung, zumindest aber einer besseren und nebenwirkungsärmeren Therapie in absehbarer Zeit näherkommen. Schlüsselbegriffe dabei sind aus meiner Sicht die intestinale Mikrobiota, die Aufrechterhaltung bzw. Regeneration der intestinalen Mukosabarriere, die Ernährung (sowohl „prophylaktisch“ als auch zur Therapie) und das Entschlüsseln und Verstehen dieser Aspekte im Zusammenspiel mit der jeweils individuellen genetischen und immunologischen Ausstattung der Menschen bzw. Patienten.

 

Darmerkrankungen: Paris Klassifikation des Morbus Crohn

 

Darstellung der Paris‐Klassifikation des Erkrankungsphänotyps, Zuordnung aufgrund der Lokalisation der betroffenen Darmabschnitte (GT=Gastrointestinaltrakt)

Quelle: Buderus et al, Chronisch entzündliche Darmerkrankungen bei pädiatrischen Patienten, Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 8, 20.02.2015